Jake Harrison Meyer
Case #34
Europa 2
An der Stirnwand des Ausstellungsraumes sind vier Ventilatoren montiert, die einen starken Wind erzeugen, sechs große freihängende schwarz-weiß Bilder sind gleichmäßig im Raum angeordnet und bewegen sich im Wind. Das laute Motorengeräusch der Ventilatoren steht in einen augenfälligen Kontrast zu den Abbildungen auf den Bildern: zarte Punktewolken setzten sich zu feinen Strukturen zusammen, die einen natürlichen Ursprung zu haben scheinen. Zu sehen ist ein photogrammetisch erfasstes Stück des Wattenmeers: kleineren und größeren Priele, ausgetrockneter Sand, manchmal schaut man von oben auf die zart strukturierte Fläche, manchmal von der Seite.
Jake Harrison Meyer unternimmt alleine – explizit als Kunstaktion deklariert – mit verschiedenen muskelbetriebenen Transportmitteln lange Durchquerungen: so hat er mit dem Fahrrad von Sizilien aus startend Italien durchquert, danach das Fahrrad über einen Alpenpass getragen und ist schließlich per Kajak vom Bodensee den Rhein runter nach Köln gefahren; diese Aktion hieß Europa 1. Für die Aktion Europa 2 sollte die Fahrt mit dem Seekajak von Köln bis zum Nordkapp gehen, den Rhein hinunter, danach die Nordseeküste hinauf bis zum nördlichsten Punkt Europas. Meyer musste die Fahrt wegen schlechter Wetterbedingungen in den Niederlanden abbrechen. Unterwegs fotografiert der Künstler mit einer sehr speziellen Technik, der Photogrammetrie: Er macht viele sich überlappende Fotos von einem einzigen Ort, diese Fotos werden zuhause von einer Software zu einem 3 D Modell zusammengesetzt. Das Modell verzeichnet sowohl die Abmessungen des aufgezeichneten Gegenstandes, außerdem legt die 3 D Software die fotografischen Oberflächen auf das gerenderte Modell. Aus diesem dreidimensionales Foto entnimmt Jake Harrison Meyer am Rechner wieder zweidimensionale Fotos, die nun im Case Projektraum ausgestellt sind.
Entdecken und Erforschen der Welt und das Vermessen der selben hängen seit Jahrhunderten eng zusammen. Die Photogrammetrie wurde schon im Zeitalter der Glasplattennegative und der Ballonluftfahrt zur Vermessung von Landstrichen eingesetzt. Während Francesco Petrarca den Mont Ventoux im Jahre 1336 zwar ohne Kamera bestieg, war sein schriftlicher Bericht doch eine frühe Aufzeichnung eines Outdoor Erlebnisses. In Jake Harrison Meyers Ausstellung zeigt sich eindrücklich, dass Naturerfahrung heute eine mehrfach medial und technisch überformte Erfahrung ist: das Wattenmeer ist ein Foto eines dreidimensionalen Modells des Wattenmeers, der Wind ist so simuliert, wie jede Kletterroute in einer ortsüblichen Kletterhalle eine Simulation ist. Das, was eigentlich – trotz allem – die Wildheit dieser Unternehmung darstellt, die schiere Länge der Kajakfahrt und die Ausgesetztheit im Wetter, ist reduziert auf 20 m2 aufgezeichnetes Wattenmeer und ein künstlicher Wind. So erscheint Meyers visuellen Setzungen wie ein Gegenprogramm zur der gewöhnlichen Outdoorfotografie, die fast immer von Weite, Gefahr und dem scheinbar authentischen Verbinden mit der Natur berichtet.
[BG]