Philipp Böll
Case #23 — Lvdwig
Die Orte, die auf Philipp Bölls großformatigen Fotografien abgebildet sind, erscheinen zunächst alltäglich. Ein Parkplatz, eine verlassene Tankstelle, eine Landstraße, ein Fluss, Häuser, eine Brache. Betrachtet man jedoch die Reihe der sechs kleinformatigen Fotos, die ebenfalls Teil der Ausstellung sind, mag sich ein leichtes Unbehagen einstellen: Im Kontrast zu den dokumentarischen Aufnahmen von Orten, handelt es sich hier um inszenierte Studiofotografien von Objekten wie Messer, Benzinkanister, Hammer, Kruzifix – und von Blut. Um den tatsächlichen Hintergrund der Ausstellung ›Lvdwig‹ zu entschlüsseln, benötigen die Betrachter jedoch den ausliegenden Text von Daniel Erk. In den 1980er Jahren verübten zwei gebildete junge Männer in Norditalien und München mehrere brutale Attentate auf Personen, die ihrer Meinung nach nicht gottesfürchtig lebten, darunter Prostituierte, Drogenabhängige oder Homosexuelle. Sie hinterließen an den Tatorten jeweils ein Bekennerschreiben, in dem sie sich als ›Gruppe Lvdwig‹ bezeichneten. 1984 wurden sie schließlich gefasst und nach einem mehrjährigen Prozess zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Böll recherchierte für seine Arbeit die Tathergänge und fotografierte 30 Jahre später die Tatorte und ihre Umgebung. Bei den fotografierten Objekten handelt es sich um Stellvertreter von Tatwerkzeugen, wie Hammer oder Kruzifix. Durch die Trennung von Bild und Text verdeutlicht Böll ein zentrales Phänomen dokumentarischer Fotografie: es ist die Bildunterschrift, die schriftliche Kontextualisierung, die eine zunächst harmlose Straße plötzlich zu einem Tatort macht. Es ist also der Text, der die Lesart des Bildes vorgibt – ein anderer Text, und wir als Betrachter sähen ein anderes Bild. [WE]