Tina Rietzschel
Case #11 — Historia Naturalis
Die von Tina Rietzschel fotografierten Waldszenen scheinen direkt einer Märchen- und Fabelwelt entsprungen: Ein Fuchs und eine Elster sitzen friedlich wie bei einem Kaffeekränzchen auf Moos und Laub bedecktem Waldboden beisammen. Sanft fallen einzelne Sonnenstrahlen durch das dichte Blattwerk des sommerlichen Waldes. Ein Dachs und ein Wildschwein-Frischling stehen einträchtig – als Rückenfiguren – nebeneinander auf einer Baumwurzel und blicken versonnen ins dichte Unterholz. Assoziationen zu Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer drängen sich unweigerlich auf. Die Idylle wäre ungetrübt, würden bei näherer Betrachtung nicht die dünnen Holzplatten auffallen, auf denen die
Tiere stehen. Und so haftet den Szenen doch etwas Groteskes und Absurdes an, denn es handelt sich bei den Tieren um ausgestopfte, leblose Präparate, die Rietzschel für ihre Fotografien im Wald arrangiert hat. Neben den Fotografien befindet sich ein wandfüllendes Diorama im Ausstellungsraum, ebenfalls ein Stück Wald, jedoch ohne Tierfiguren. Auch die tiefen Rahmungen der Fotografien mit schräg eingesetztem Glas spielen auf das Diorama an. Fast beiläufig schneidet Rietzschel hier die großen Themen der Fotografie über das Verhältnis von Realität, Konstruktion und Illusion, von Darstellung von Leben und Tod an. Mit dem Diorama verweist sie eindeutig auf Louis Daguerre, den Erfinder sowohl des Dioramas als auch eines der ersten fotografischen Verfahren. Sie lenkt unseren Blick also auf die Anfangszeit einer neuen Art der Bildererzeugung, welche unsere Wahrnehmung der Welt grundlegend und unwiderruflich veränderte. Eine Zeit, die nur wenige Jahre nach der Entstehung des Wanderers über dem Nebelmeer begann. [WE]